Warschau: eine aufregende, anstrengende und anregende Metropole (G. Gnauck)

2014-03-05

 

 

Leben wie ein Deutscher in Warschau? Nein, darüber kann man nicht schreiben. Dann schon lieber über die Existenz als Englishman in New York oder als Schwedin in Oberbayern. „Warschau“ und „deutsch“, so lautet hier meine – freilich ganz subjektive, empirisch durch nichts zu erhärtende – Aussage, das passt nicht zusammen. Das reimt sich nicht, das beißt sich. „Warschau“, das lädt allenfalls zu absurden und doch bedeutungsschweren Wortspielen ein: Wahr-schau. War-szał. Oder, um die englische Namensform zu wählen: War-saw, die Schmerzensstadt.
 
Wenn man als Deutscher durch Polen reist, findet das Auge fast überall Ruhepunkte, an denen es sich von der Konfrontation mit dem Fremden erholen kann. In Krakau stößt man auf Veit Stoß, den Nürnberger Künstler. In Łódź wandelt man auf den Spuren deutscher Textilunternehmer oder des Textunternehmers Karl Dedecius. Selbst in der kleinen Stadt Płock an der Weichsel begegnet man E.T.A. Hoffmann. Und im milden Schlesien, im rauen Ostpreußen, im reichen Danzig, im kargen Pommern umfängt den deutschen Reisenden das wohlige, das tröstliche Gefühl: Soviel wir anderswo auch zerstört haben, hier haben wir immerhin etwas aufgebaut. Danach haben wir es zwar verspielt und verloren. Doch in einem immateriellen Sinne „bleibt Schlesien unser“.
 
Nichts von alledem in Warschau. Die Deutschen, die sich doch gern als Kulturträger feierten, glänzen hier weitgehend durch Abwesenheit. Deutsche in der Stadtgeschichte? Ich weiß, es gab sie: in früheren Epochen. In jüngster Zeit hatte man gewisse Gründe, die früheren Leistungen deutscher Zuwanderer nicht allzu sehr zu exponieren. Und im 19. Jahrhundert, als Europas Metropolen wurden, was sie sind, stechen vor allem die Namen anderer „Zuwanderer“ ins Auge: Starynkewitsch (in der polnischen Form: Starynkiewicz) und Lindley. Der russische General Sokrat Starynkewitsch war 17 Jahre lang Warschauer Oberbürgermeister. Politisch war es eine finstere Epoche: Die einstige Metropole war nurmehr eine von vielen Provinz- und Garnisonsstädten des Zarenreiches. Doch städtebaulich eine große Zeit: Viele Grünanlagen und die Kanalisation wurden angelegt, die ersten Telefonanschlüsse geschaltet. Für die Kanalisation zeichneten die englischen Ingenieure William Lindley (senior) und William Heerlein Lindley (junior) verantwortlich. Die ersten Telefonanlagen stammten, man höre und staune, von der amerikanischen Firma „The International Bell Telephone Company“, die sie 1881 in Betrieb nahm, sechs Jahre nach der Erfindung des Telefons. 1886 gab es im zaristischen Warschau 600 Telefonanschlüsse. Wenig später wurde das Netz von einer schwedischen Firma übernommen.
 
Und die Deutschen? Nur die trockene Statistik gibt Auskunft darüber. Im Jahre 1897 ermittelte eine Volkszählung in Warschau 11.317 Personen, die als Muttersprache deutsch angaben. Nach den Polen (421.569), jiddisch sprechenden Juden (185.077), Russen und anderen Ostslawen (59.763, drei Viertel davon Männer, großenteils Soldaten und Beamte) immerhin die viertgrößte Sprachgruppe. Doch deutsche Namen haben sich, gerade in der zweiten Jahrhunderthälfte, ins Gedächtnis dieser Stadt nicht eingegraben.
 
Ganz anders war es eine Epoche später. Wenn die Geschichte nur ein wenig anders verlaufen wäre, hätten die deutschen Architekten Gross, Leufgen, Pabst und Kollegen die bedeutendsten Deutschen in der Baugeschichte der Metropole werden können: Sie planten seit Januar 1940 die „neue deutsche Stadt“ Warschau mit einer kuppelgekrönten „Volkshalle“ anstelle des Königsschlosses. Doch da die Geschichte so verlief, wie wir sie in Erinnerung haben, sind das sichtbarste Zeichen deutscher Anwesenheit in der Stadt bis heute die zahlreichen Baulücken geblieben.
Vielleicht liegt es gerade daran, dass sich seitdem deutsche Architekten auf Warschauer Boden auffällig zurückgehalten haben? Es gibt Dutzende von Gebäuden, auch Hotel- und Bürotürme, die nach 1989 von ausländischen Architekturbüros errichtet worden sind. Bemerkenswert: Ein Bauwerk deutscher Autorenschaft ist nicht darunter. (Die neue deutsche Botschaft in Zartgrün, vom Berliner Architekten Holger Kleine entworfen, bestätigt als Ausnahme eindrucksvoll die Regel.) Selbst der neue, deutschsprachige architektonische Stadtführer „Warschau – Phönix aus der Asche“ wurde von einem Schweizer verfasst, dem Architekturfachmann, Polen- und Russlandkenner Werner Huber. Gehen deutsche Baumeister heute etwa nicht ins Ausland? Meinhard von Gerkhan, der Architekt des Berliner Hauptbahnhofs, hat in den letzten Jahren mehrfach in Riga gebaut. Warschauer Baugeschichte schreiben dagegen, von den Polen selbst einmal abgesehen, vor allem Engländer und Amerikaner: Norman Foster und Daniel Libeskind - letzterer mit einem gläsernen, segelförmigen Apartmenthochhaus, das, so ist zumindest die Planung, bald den Kulturpalast überragen soll.
Und die Baumeister früherer Zeiten? Sie hießen Corazzi, Marconi, Castelli, Chiaveri. Das Warschau der Könige ist Stein gewordene Italiensehnsucht.
 
Ach ja, da gab es noch diese Sachsen. August II. und August III., die Polen insgesamt mehr als sechzig Jahre lang regiert haben. Es gibt bis heute einen nicht allzu großen Park, den Sächsischen Garten; es gab im Stadtbild eine Sächsische Achse, die man nicht mehr sieht; es gab ein Sächsisches Palais und ein Brühlsches Palais, die spätere deutsche Herrscher in die Luft gejagt haben; es gibt den Stadtteil „Sächsische Kämpe“ rechts der Weichsel, der seine Entstehung auf sumpfigem Boden holländischen, nicht sächsischen Siedlern verdankt, auch wenn die Wettiner dort später ein Palais hingestellt haben, das längst wieder verschwunden ist. Kurz und gut, die Sachsen führen in Warschau bestenfalls eine virtuelle Existenz.
 
Und das 20. Jahrhundert, in dem wir groß geworden sind? Was soll man darüber noch sagen. Ich beschränke mich darauf, Jarosław Marek Rymkiewicz zu zitieren, einen der bekanntesten polnischen Lyriker, Jahrgang 1935. Sein jüngstes, 2008 erschienenes, autobiografisches Buch trägt den schönen, deutschen, Schumannschen Titel „Kinderszenen“. Es ist in Polen auf ein starkes, wenn auch geteiltes Echo gestoßen; es handelt vom Warschauer Aufstand. „Ein blutiges Loch – genau das war meine Kindheit. Ich kann nicht sagen, dass ich den Deutschen groß etwas vorzuwerfen hätte, dass ich von ihnen etwas erwartete oder forderte. Ich wünschte mir nur, dass sie wissen, was sie mir angetan haben: Sie haben meine Kindheit zerstört und meine acht Jahre alte Vorstellungskraft ruiniert. Geblieben ist ein Berg von Trümmern, ein Berg von Leichen, eine große Latrine, ein großes Loch voller schwarzen Blutes.“
 
Es bleibt wohl nichts anderes übrig: Die wohlmeinenden deutschen Politiker, die ein weiteres Mal die Parole ausgeben, die deutsch-polnischen Beziehungen mögen bald so sein wie die deutsch-französischen, muss man gelegentlich daran erinnern, dass es dafür objektive Hindernisse gibt. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Stadt Warschau im Krieg etwa so viele Menschen verloren hat wie das Land Frankreich. Auch unsere französischen Freunde sollten das nicht vergessen, wenn sie auf den wunderbar erhaltenen Champs-Elysées am Denkmal de Gaulles vorbeiflanieren, auf dem vom „Martyrium“ der Stadt Paris die Rede ist.
Das Jahr 1945: Stunde Null. Gab es danach noch Deutsche in Warschau? Ja, eine ganze Menge. Es gab Kriegsgefangene, die wieder aufbauen mussten, was ihre Befehlshaber , ihre Kameraden – und vielleicht sie selbst - in Schutt und Asche gelegt hatten. Einige Jahre vergingen, und man konnte beginnen, von „Nachkriegszeit“ zu sprechen. Da kamen ganz neue Deutsche. Menschen, die das Verbindende suchten, obwohl die Zeichen wieder – schon wieder – auf Trennung standen.
Ludwig Zimmerer war einer von ihnen. Im Tauwetter des Jahres 1956 kreuzte er in Warschau auf. Er war Korrespondent der Zeitung „Die Welt“, später auch anderer Medien. Er war in Polen der erste westdeutsche, vielleicht gar der erste westliche Korrespondent nach dem Krieg. Bald machte sich der verdiente Journalist auch als Sammler polnischer Volkskunst und Förderer der Künstler einen Namen. Im Laufe eines Vierteljahrhunderts fanden mehrere tausend Stücke ihren Weg in sein Haus auf der „Sächsischen Kämpe“, und im Sommer 2009 ist ein Teil davon im Warschauer Ethnografischen Museum gelandet.
 
Ein anderer Deutscher dieser Zeit war der 1929 geborene Thomas Harlan. Er verbrachte ab 1960 mehrere Jahre in der Stadt, um seinen Beitrag zur Aufarbeitung deutscher Schuld zu leisten, durfte in Archiven stöbern, was ihm in der jungen Bundesrepublik viel Ärger einbrachte, und geriet am Ende auch mit den polnischen Behörden in Konflikt. Zimmerer, ein linker bayerischer Katholik, hatte in Adenauers Deutschland für sich kein Aus- oder Fortkommen gesehen. Harlan war der Sohn des Filmregisseurs Veit Harlan, der sich um das nationalsozialistische Deutschland verdient gemacht hat. Der Sohn muss für seine Art der deutsch-polnischen Versöhnungsarbeit sehr persönliche Motive gehabt haben. Am Ende wurde er aus dem kommunistischen Polen ausgewiesen. Höchst untypische Lebensläufe, dieser Zimmerer und jener (2010 verstorbene) Harlan; die beiden Wahl-Warschauer wirken ein wenig wie Desperados.
Kürzlich blätterte ich mal wieder in dem genial bösartigen Buch „Molwanien“, der Parodie eines Reiseführers durch einen fiktiven osteuropäischen Zwergstaat. Ich entdeckte darin zwei Fotos, die offenkundig etwas älter waren, jedoch eindeutig Straßenszenen aus – Warschau zeigten. Schmerz lass nach! Nun gut: Diesen Reiseführer haben im wesentlichen Amerikaner geschrieben. Für Deutsche gilt immer noch: Sie bauen nicht in Warschau, sie lästern nicht über Warschau. Diese Schmerzensstadt ist für sie in gewissem Sinne tabu.
Ich behelfe mir, um mir mein Dasein an der Weichsel zu erleichtern, gelegentlich mit den Worten eines deutschen Schriftstellers. Er schrieb, es muss in den neunziger Jahren gewesen sein: „Schöne Städte sind langweilig; hässliche Städte sind schön.“ Wahr-schau: Nichts in dieser Stadt wird wieder so werden, wie es war. Selbst für Polen ist diese Stadt nicht gemütlich. Für Deutsche erst recht nicht.
 
Es ist nicht leicht, als Bürger deutscher Zunge in dieser Metropole zu leben. Es wäre alles noch viel ungemütlicher, wären da nicht Benedikt XVI. und Steffen Möller. Der deutsche Papst hat mit seiner ersten Auslandsreise, die an die Weichsel führte und in Warschau begann, die Herzen der Polen gewonnen. Mein Benedikt-Erlebnis hatte ich am Tag der Papstwahl 2005. Es war während einer Tagung, als hinter mir eine nette polnische Kollegin saß, deren Hände ich in den Jahren zuvor vielleicht dreimal geschüttelt und einmal geküsst hatte. Als die Nachricht von der Wahl Kardinal Ratzingers sie per sms erreichte, umschlang sie mich von hinten und schüttelte mich: „Ihr habt einen Papst!“
Und Steffen Möller? Der in Polen erfolgreiche Kabarettist und Fernsehstar hat bekanntlich einiges zur deutsch-polnischen Verständigung beigetragen. Er hat das zuckersüße Krakau als Wohnort zugunsten Warschaus aufgegeben. Bei den Bewohnern der polnischen Hauptstadt hat er einen Mangel an Lokalpatriotismus festgestellt. Mehr noch: einen „recht merkwürdigen Sadomasochismus“ der Warschauer im Verhältnis zu ihrer Stadt. Das gute daran ist: Dieser Sadomasochismus macht es den Zugereisten (und das sind in Warschau sehr viele) leichter, sich heimisch zu fühlen. Und die Erscheinung Steffen Möller macht es den Warschauern leichter, die zugereisten Deutschen zu mögen.
Für mich gibt es noch jemand, der mein Leben auf besondere Weise mit dem Leben Warschaus verknüpft hat: Es ist mein polnischer Großvater Bronisław. Er hat, anders als mein deutscher Großvater, der Wehrmachtssoldat, freiwillig und bewusst entschieden: Er wollte kämpfen. Er schloss sich früh der Widerstandsbewegung an, aus der später die Armia Krajowa hervorgehen sollte, die Heimatarmee. An einem wichtigen Ort seines Lebenslaufs komme ich oft genug vorbei: an der Straßenecke, an der er Ende September 1944, während des Warschauer Aufstands – „Hände hoch“ – in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Was wäre geschehen, wenn sich auf Seiten des Feindes im falschen Augenblick ein Schuss gelöst hätte? Dann hätte Bronisław nach dem Krieg seine Erinnerungen nicht mehr in die Schreibmaschine tippen können, und ich hätte von seinen Erlebnissen nie erfahren. Dann hätte die Geschichte, auch meine Geschichte, anders ausgesehen.
 
Gemütlich ist diese Stadt also nicht. Immerhin, die Menschen auf der Straße sind freundlicher geworden in den letzten Jahren. Die postsozialistische Mélange aus Muffligkeit und Misstrauen weicht allmählich. Und die jüngere und die mittlere Generation haben begonnen, sich mit ihrer Stadt zu identifizieren. Warschau ist schon aufregend. Auch anstrengend und anregend. „Es soll ja dort eine sehr lebendige Künstlerszene geben“, sagte mir kürzlich eine Deutsche, die noch nie dort gewesen ist. „Alles noch nicht so tot wie hier in Berlin.“ Die gute Frau stammt aus Westdeutschland, hat sich in Prenzlauer Berg angesiedelt und spürt nach den wilden neunziger Jahren die neue deutsche Erstarrung.

Warschau dagegen verkörpert heute, was vor einem Jahrhundert von Berlin gesagt wurde: eine Stadt, die ewig im Werden ist und niemals im Sein. So rufe ich denn: Ihr Völker der Welt, kommt in diese Stadt! Kommt und lasst euch erquicken von den Mühseligen und Beladenen (Anspielung auf Worte von Jesus. Matthäus 11, 25.  G.G.). Schaut auf das Volk mit der längsten Wochenarbeitszeit in Europa. Kommt und bewundert die Baukräne, die in heldenhafter Sisyphusarbeit die gewaltigen Baulücken schließen. Kommt und spiegelt euch in den größten Pfützen Europas.

 

Gerhard Gnauck
Historiker und Politologe, Übersetzer, seit 1999 Korrespondent von "Die Welt" für Polen und die Ukraine. Wohnt in Warschau

Dies ist eine überarbeitete Version eines Artikels aus dem Deutsch-Polnischen Magazin "Dialog" Nr. 90 (2009/2010)