Eine vergessene Gemeinschaft - Deutschstämmige Familien in Warschau (T. Markiewicz)

2013-12-05

 

Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der Warschau nicht nur beispiellos zerstört, sondern auch seiner kulturellen und ethnischen Vielfalt beraubt hinterlassen hatte, ließen im Bewusstsein seiner damaligen Einwohner die Erinnerung verblassen, dass Warschau von seinen Anfängen an eine multikulturelle Stadt war. Nachdem der Eiserne Vorhang 1989 gefallen ist und die durch den Kalten Krieg erzwungene Isolation des geteilten Europas glücklicherweise der Vergangenheit angehört, kehrt Warschau allmählich zur Normalität zurück, indem es wieder ein gastfreundlicher Ort für Ausländer wird, die – wie einst vor Jahren – sowohl aus touristischen oder beruflichen Gründen für kurze Zeit in die Stadt kommen, als auch, um sich hier niederzulassen. Der Umbruch 1989 machte es möglich, die multiethnische Geschichte Warschaus ohne die Einschränkungen der Zensur zu entdecken, insbesondere des jüdischen Warschaus – hierzu erschienen zahlreiche Publikationen, Ausstellungen und Filme; des Weiteren gab es auch Arbeiten über Russen oder gar Armenier in Warschau, doch die Anwesenheit der Deutschen in der polnischen Hauptstadt wird nach wie vor verschwiegen. Dabei geht es nicht um die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges – denn gerade zu diesem Thema erschien eine Flut von Publikationen und eine Fülle von Filmen; von Dauerausstellungen in den Warschauer Museen und dem Museum des Warschauer Aufstands ganz zu schweigen. Nach den in diesen Beiträgen festgehaltenen Abscheulichkeiten des Krieges wird das Stichwort „Die Deutschen in Warschau“ sowohl bei den älteren, die den Krieg noch in Erinnerung haben, als auch bei den jungen Warschauern eindeutig negativ assoziiert. An die friedliche Zuwanderung der Ankömmlinge aus den deutschen Ländern und ihre Koexistenz in Warschau seit der Entstehung der Stadt erinnert sich niemand. Wissenschaftler haben es noch nicht gewagt, dieses Thema ganzheitlich zu behandeln, man beschränkte sich lediglich auf kurze Beiträge oder Referate. Das Tabu wurde von den wenigen Erinnerungen der Nachkommen der deutschstämmigen Familien gebrochen, die allerdings erst nach 1989 in Druck erschienen, auch wenn man in den Warschauer Telefonbüchern und unter den Namensgebern für die hauptstädtischen Straßen nicht selten auf einen deutsch klingenden Namen stößt. Mit Sicherheit sind es keine Nachkommen der Besatzer – ihre Ahnen kamen einst mit friedlichen Absichten in die Stadt.

 

Eine der repräsentativen Straßen im Herzen Warschaus wurde nach Johann Christian Schuch benannt. In einer Stadt, die im 20. Jahrhundert eine einmalige Gewalt und ein unglaubliches Leid von den deutschen Aggressoren erfahren hat, mag die Exponierung eines Deutschen an einem so prominenten Ort verwunderlich anmuten. In der Szuch-Allee (für die Straßenschilder und Stadtkarten wurde die polonisierte Form seines Namens verwendet) gibt es heute das Außenministerium sowie das Ministerium für Nationale Bildung, und unweit von ihnen den Sitz der polnischen Regierung. Es gilt dabei zu erwähnen, dass sich in den heutigen Ministeriumsgebäuden während der deutschen Besatzungszeit der Folterkeller der Gestapo befand. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die kommunistischen Machthaber die in der Gesellschaft herrschenden antideutschen Stimmungen und änderten den Straßennamen; erst nach 1989 kehrte der Name auf den Warschauer Stadtplan zurück.

 

Johann Christian Schuch, ein Architekt und Stadtplaner, gehörte zu einer nicht kleinen Migrantengruppe aus den deutschen Ländern, die im 18. Jahrhundert im sächsischen Hofgefolge nach Warschau kam. Dennoch war diese Migration in der Stadt an der Weichsel nichts Neues. Warschau entstand an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert und gegen 1300 erhielt es das Stadtrecht nach dem Kulmer Recht, das aus dem deutschen Magdeburger Recht entwickelt wurde. Lokatoren waren wohlhabende, überwiegend deutschstämmige Kaufleute, die im Mittelalter im Stadtpatriziat dominierten, obwohl sie prozentual gesehen weniger vertreten waren als in solch alten polnischen Städten wie Krakau oder Posen. Zum Symbol der über Jahrhunderte andauernden, friedlichen deutschen Migration nach Warschau wurde die Familie Fukier, die polonisierten Fugger, Vertreter der Seitenlinie des berühmten Augsburger Adelsgeschlechts mit weltweiten Handelsbeziehungen, die sich gegen 1515 in Warschau niederlassen hatten. Ihr Spezialgebiet wurde der Weinhandel – bis 1939 betrieben sie am Altstadtmarkt in Warschau eine Weinstube. Nach dem Krieg baute der letzte Nachkomme seines Geschlechts, Henryk Maria Fukier, das zerstörte Haus wieder auf, doch infolge der kommunistischen Nationalisierung war es nicht mehr möglich, das Haus wiederzubekommen. 1959 starb Henryk kinderlos; mit seinem Tod endete die Geschichte einer der ältesten Familien des früheren Warschaus, doch die Tradition blieb im Namen der zu PRL-Zeiten verstaatlichten Weinstube „U Fukiera“ (Bei Fukier) erhalten, und auch heute noch wird an diesem historischen Ort ein Privatrestaurant unter diesem Namen betrieben.

 

Der Breslauer Germanist Marek Zybura hat die erste, mittelalterliche Migration aus den deutschen Ländern in die polnischen Gebiete auf circa 100.000 Menschen geschätzt – bei insgesamt einer Million Einwohnern des damaligen Polens war das nicht wenig. Die nächste große Migrationswelle fand im 18. Jahrhundert statt und war eine natürliche Folge davon, dass in den Jahren 1709–1763 mit August II. und August III. Deutsche aus dem sächsischen Herrschergeschlecht der Wettiner den polnischen Thron bestiegen hatten. Eine hohe Zahl von Ausländern dürfte die Warschauer nicht verwundert haben, denn Warschau war – ähnlich wie viele andere Städte im Königreich Polen-Litauen – eine multiethnische und multikulturelle Stadt, in deren Straßen weder Armenier, Ruthenen, Juden und Deutsche noch Italiener, Holländer oder Franzosen fehlten. In diesem Teil Europas brauchten der königliche Hof und die Magnatenhöfe seit dem Mittelalter Fachleute aus dem Westen, die zur Vermittlung neuer Technologien und zivilisatorischer Neuerscheinungen beitrugen. Nicht anders war es auch zu der Zeit der Sachsenkönige. Im königlichen Gefolge kamen viele Architekten nach Warschau und bauten zahlreiche charakteristische Kirchen und Paläste – es überwog der Barock- und bald darauf der Rokokostil. Nach Warschau kamen außer den Architekten auch Künstler, Unternehmer, Kaufleute, Handwerker und Militärs. Auch wenn sich die Sachsenzeit in politischer Hinsicht bei polnischen Historikern nicht des besten Rufes erfreute, kam die Regierungszeit der Herrscher von der Elbe der Stadt selbst mit Sicherheit zugute. August II. der Starke unternahm den ersten modernen Versuch in der Geschichte der Hauptstadt, diese stadtplanerisch neu zu ordnen. Den Kern seines neuen Konzepts bildete die neue Residenz des Königs: das Sächsische Palais (Pałac Saski). Daher rief er 1715 zum Zwecke der Arbeitskoordination das Sächsische Bauamt in Warschau ins Leben und holte Architekten aus Sachsen, Thorn, Danzig und Berlin, darunter Joachim Daniel von Jauch, Matthäus Daniel Pöppelmann und seinen Sohn Carl Friedrich, Johann Christoph von Naumann und Johann Sigmund Deybel. Zu dem Zeitpunkt entstand eine kühne städtebauliche Anlage, die sogenannte Sächsische Achse, die die Entwicklung der Stadt in westliche Richtung jahrzehntelang bestimmte. Und an dieser Stelle taucht das Motiv auf, das mit dem bereits erwähnten Johann Christian Schuch zusammenhängt, dessen Vater Hofgärtner der sächsischen Wettiner-Dynastie in Dresden war. Der Nachfolger der sächsischen Könige und zugleich König Polens Stanisław August Poniatowski, der wohl gebildetste unter den polnischen Monarchen, wusste die Fähigkeiten und das Talent der von seinen Vorgängern hergeholten ausländischen Künstler und Architekten zu schätzen. So setzte er Schuch 1781 als Gartenbauarchitekten für die königlichen Gärten ein. Schuch nahm sich zusammen mit dem Italiener Domenico Merlini und dem Dresdener Johann Christian Kamsetzer des Umbaus des Łazienki-Parks an, nach wie vor einer der schönsten Parkanlagen in Warschau und Europa. Dort kann man noch bis heute die nach Schuchs Anweisung gepflanzten Bäume bewundern, und die von ihm gezeichnete sogenannte Stanislaus-Achse (oś stanisławowska) ist im Stadtbild des heutigen Warschaus nach wie vor deutlich zu erkennen. Johann Christian Schuch heiratete eine Polin und starb 1813 in Warschau, wo er auf dem evangelisch-augsburgischen Friedhof beigesetzt wurde. Interessanterweise wurde der Architektenberuf von seinen männlichen Nachkommen fortgesetzt – sowohl sein Sohn, Adolf Grzegorz Franciszek (1792–1880), als auch sein Enkel, Adolf Wiktor (1859–1908), blieben dem Fach ihres Ahnes treu.

 

Für die Geschichte Warschaus und seine bürgerlichen Familien hatten die polnisch-sächsische Union und die Regierungszeit Stanisław August Poniatowskis eine Schlüsselbedeutung. Bis in das 18. Jahrhundert hinein lebte das polnische Bürgertum – darunter auch das von Warschau – in einer gewissen Isolation, die aus einem Privilegienmangel resultierte. Dies unterschied die polnische Adelsrepublik von vielen anderen Ländern, insbesondere in Westeuropa. Die Isolation verstärkte die Tatsache, dass die meist deutschstämmigen Vertreter des Bürgertums Protestanten waren. Den Mangel an Standesprivilegien kompensierten in der Regel das Vermögen und der daraus folgende gesellschaftliche Status. In der Regierungszeit Stanisław II. August Poniatowskis (1764–1795) wurden Reformen vorgenommen, die darauf zielten, das Bürgertum dem Adel gleichzustellen. An der Spitze der bürgerlichen Bewegung stand Jan Dekert, Stadtpräsident des Alten Warschau, der aus einer großpolnischen Familie mit deutschen Wurzeln stammte. Doch unabhängig von den reformatorischen Veränderungen, die erst mit der Verfassung vom 3. Mai 1971 in Kraft gesetzt wurden, hatte die nicht mehr so kleine deutsche Gemeinschaft Warschaus dem toleranten Stanisław August ihr erstes Gotteshaus zu verdanken, in dessen Bau er einwilligte. Der König war es, der den Entwurf und den Architekten aussuchte – den Lutheraner Simon Gottlieb Zug aus dem sächsischen Merseburg. Die runde, in Form eines Amphitheaters gebaute, klassizistische evangelisch-augsburgische Kirche von 1781 schmückt bis heute die Warschauer Innenstadt und wird zu den besten Werken des sächsischen Architekten gezählt. Die Nachkommen der Familien, die sich in den Zeiten der sächsischen Könige und der Herrschaft Stanisław II. August Poniatowskis in Warschau niedergelassen haben, leben bis heute in der polnischen Hauptstadt. Dazu gehören die Familie Rode, die Nachkommen eines königlichen Apothekers, die Familie Straus, Nachfahren eines Obergewandkämmerers oder die bereits erwähnten Schuchs von dem Gartenbauarchitekten. Das 18. Jahrhundert brachte einem Teil von ihnen für ihre Verdienste um den Staat eine Standeserhebung. Die frisch gebackenen Warschauer entschlossen sich zur Loyalität dem polnischen Herrscher und ihrer neuen Heimat gegenüber. Der aus Mecklenburg stammende Georg Heinrich Butzau, ein Heiduck des Königs Stanisław August, rettete den Herrscher von dem von den Konföderaten von Bar organisierten Entführungsversuch im November 1771, indem er seinen eigenen Körper als Schutzschild für den König einsetzte und damit sein Leben für ihn opferte. Als 1794 der Kościuszko-Aufstand zur Verteidigung der Mai-Verfassung von 1791 und gegen die russische Militärintervention ausgebrochen war, versorgte Thomas Michael Dangel, ein in Ostpreußen geborener Kutschenfabrikant, die polnische Armee mit Pferden und Pferdegespannen im Rahmen des Generalkriegskommissariats. Michael Gröll wiederum – ein verdienter Arzt und Verleger, ein Hofkommissionär, der Herausgeber der ersten polnischen Anzeigen-Zeitung und der politischen Schriften der Reformer – meldete sich als Freiwilliger, um an der Seite der Aufständischen zu kämpfen, genauso wie Franciszek Gugenmus, ein Warschauer Uhrmacher mit bayerischen Wurzeln.

 

Nach der Niederlage des Kościuszko-Aufstands fiel Warschau 1795 unter preußische Herrschaft, und die polnische Hauptstadt wurde zum provinziellen Sitz eines der Departements der neu gegründeten Provinz Südpreußen degradiert. Diesmal waren es deutsche Beamten, die in die Stadt kamen, Vertreter des Verwaltungsapparats eines fremden Königs, Friedrich Wilhelms II. Die Jahre der preußischen Herrschaft 1795–1807 waren für Warschau Jahre des Abstiegs, was sich unter anderem in einem Rückgang der Einwohnerzahl von 115.000 auf 60.000 äußerte, dennoch blieb die Stadt weiterhin ein wichtiges polnisches Kulturzentrum. In den Berichten der Zeitgenossen wurde die preußische Herrschaft über Warschau nicht negativ bewertet. In der Tat erschien sie, verglichen mit der österreichischen in Galizien, wo jegliche Ausdrücke des Polentums brutal unterdrückt wurden, entschieden besser zu sein. Antoni Magier, ein Chronist des damaligen Warschau, beurteilte die preußische Zeit in der polnischen Hauptstadt als nicht so übel, denn er schrieb: „Die Regentschaft in Südpreußen war – könnte man sagen – philosophischer Art: die Freiheit der Person, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit sowie die Gleichheit aller Stände vor dem Gesetzt wurden eingehalten.“ Aus diesem Grund war es auch möglich, im Jahre 1800 die Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften (Towarzystwo Przyjaciół Nauk) in Warschau zu gründen, die einzige polnische Einrichtung dieser Art, die nach dem Verlust der Unabhängigkeit die polnische Kultur und Tradition als geistiges nationales Gut in ihre Obhut nahm. In der Gesellschaft waren viele hervorragende Wissenschaftler, Künstler und Literaten tätig, darunter wieder einmal Personen aus dem deutschen Kulturkreis, wie zum Beispiel der Historiker und Bibliograph Jerzy Samuel Bandtkie, der Lexikograph und Verfasser des ersten Wörterbuchs der polnischen Sprache Samuel Gottlieb Linde oder der Komponist und spätere Lehrer Frédéric Chopins Joseph Xaver Elsner. Das wissenschaftliche und kulturelle Leben Warschaus zog auch einige der sich hier dienstlich aufhaltenden Deutschen an, unter anderem die Schriftsteller Julius Eduard Hitzig, Zacharias Werner und Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (die zwei Letztgenannten haben Polinnen geheiratet), sodass sie die polnische Problematik in die deutsche Literatur einführten. Ein Sonderfall war hierbei E.T.A. Hofmann (1776–1822), der als Beamter des preußischen Justizapparats nach Warschau kam, der aber doch mit Polen sympathisierte. Hoffmann lebte 1804–1807 in Warschau, hier debütierte er als Dirigent und Komponist; 1805 war er Mitbegründer der deutsch-polnischen Musikalischen Gesellschaft „Harmonie“. Ebenfalls in Warschau begann seine literarische Karriere als Vertreter der deutschen Romantik.

 

1807 wurde Warschau vom französischen Heer eingenommen, und Kaiser Napoleon errichtete das Herzogtum Warschau, zu dessen Herrscher er den sächsischen, Polnisch sprechenden König Friedrich August III. ernannte. Nach der Niederlage Napoleons, infolge der Beschlüsse des Wiener Kongresses im Jahre 1815 entstand das durch die Personalunion mit Russland verbundene, autonome „Königreich Polen“ (Kongresspolen) mit Warschau als Hauptstadt, mit einer polnischen Regierung und einer polnischen Armee. Der damalige Finanzminister, Fürst Ksawery Drucki-Lubecki, unterschrieb am 16. Februar 1816 den „Beschluss über das Niederlassungsrecht für nützliche Ausländer“, der zahlreiche Privilegien definierte, darunter eine sechsjährige Befreiung von jeglichen öffentlichen Lasten und Zahlungen für ausländische Handwerker, Fabrikanten und Landwirte. Der Plan des Finanzministers war offensichtlich: Es handelte sich um eine Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes nach den Verwüstungen und Kontributionszahlungen aus der Zeit der Napoleonischen Kriege. In den nächsten Jahren wurden die Privilegien von der Regierung in Warschau nicht nur erweitert, sondern man warb mit Hilfe der russischen Konsularvetretungen in den deutschen Ländern mit einer groß angelegten Aktion Ausländer an. Als Antwort darauf kam eine Vielzahl neuer Siedler in die von Russland besetzten polnischen Gebiete; ein Großteil von ihnen zog in die Städte, davon viele nach Warschau. Was außer den genannten Privilegien zog die Neuankömmlinge an? Mit Sicherheit die Arbeitslosigkeit im eigenen Land, bedingt durch einen Überfluss an Fachleuten in bestimmten Berufszweigen, hinzu kam die Perspektive eines schnellen Aufstiegs und wirtschaftlichen Aufschwungs in Kongresspolen sowie der viel versprechende russische Markt. Diese Chance nutzten Fachleute aus verschiedenen Branchen. Der Lithograph Karl Friedrich Minter kam 1822 aus Berlin nach Warschau. Zuerst leitete er den lithographischen Betrieb des Ausschusses für Religiöse Bekenntnisse und Öffentliche Bildung, dann beaufsichtigte er im Auftrag des Militärs die Arbeiten an einer Landkarte Kongresspolens, und schließlich besaß er eine Metallgießerei. Johann Gottfried Temler aus Sachsen gründete 1819 in Warschau eine Gerberei und damit eine Firma, die bis 1948 überdauerte. Der aus der Niederlausitz stammende Johann Gottlieb Traugott Ulrich eröffnete den ersten, breit gefächerten Gartenbetrieb in Polen, in dem er in Gewächshäusern Bäume und Blumen züchtete; damit gründete er die Ulrich-Dynastie – die erste Dynastie von Warschauer Gärtnern, deren Firma sich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hielt. Der Name einer Siedlung im Warschauer Stadtteil Wola erinnert noch heute an die Ulrich-Familie: Ulrychów.

 

Die aus Deutschland stammenden Ausländer waren nicht nur in Handwerk und Industrie tätig, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich. Die Familie Kolberg ist dabei besonders interessant. Der Vermessungsingenieur Christoph Julius Kolberg kam aus Berlin hierher, um Südpreußen zu vermessen. 1806 heiratete er in Warschau die Tochter eines Nachkommens französischer Migranten, Karolina Fryderyka Mercoeur, und ließ sich an der Weichsel nieder. Ab 1817 unterrichtete er Geodäsie, Vermessungskunde, Nivellierung und topographisches Zeichnen an der Königlichen Warschauer Universität. 1820 baute er das erste polnische Planimeter. Er veröffentlichte geodätische Arbeiten, erstellte den „Atlas Królestwa Polskiego“ (Atlas des Königreichs Polen) und übersetzte polnische Poesie.

 

Sein ältester Sohn Wilhelm Kolberg wurde trotz seiner künstlerischen Begabung Straßen- und Brückenbauingenieur. Nach dem Novemberaufstand (1830/31), bei dem er zum Oberleutnant befördert wurde, war er ab 1832 am Bau des Augustów-Kanals und anschließend am Bau der ersten Eisenbahnlinien im russischen Teilungsgebiet beteiligt. Zur Regulierung der Weichsel hinterließ er grundlegende Entwürfe. Der jüngere Sohn Oskar genoss eine gründliche musikalische Ausbildung (einer seiner Lehrer war Józef Elsner), bekannt wurde er aber vor allem als erster polnischer Ethnograph und Vorreiter der polnischen Folklore-Forschung, insbesondere der Volksmusik aus verschiedenen Regionen Polens. Bei zahlreichen Reisen sammelte er Materialien aus allen Bereichen der Volkskultur Polens, die er in der monumentalen Reihe „Lud, jego zwyczaje, sposób życia, mowa, podania, przysłowia, obrzędy, gusła, zabawy, pieśni, muzyka i tańce” (Das Volk, seine Bräuche, Lebensart, Sprache, Sagen, Sprichwörter, Rituale, Beschwörungen, Spiele, Lieder, Musik und Tänze) veröffentlichte. Heute befasst sich das Oskar-Kolberg-Institut in Posen mit dem umfassenden Nachlass (81 Bände des Gesamtwerks und zahlreiche Artikel zu Folklore, Ethnographie und Ethnomusik sollen herausgegeben werden). Der jüngste Bruder Antoni Kolberg interessierte sich weniger für Geodäsie und Kartographie als für Kunst. Er studierte in Warschau und an der Berliner Akademie der Bildenden Künste, in Italien absolvierte er eine zweijährige Lehre. Er spezialisierte sich auf Porträts und religiöse Malerei. Sein Gemälde „Die Heilige Dreifaltigkeit“ (Święta Trójca) gehört zum Altar der Johanneskathedrale in Warschau, die Annakirche in Wilanów verfügt über seine Wandmalereien. Leider hat sich sein Porträt Frédéric Chopins (Jugendfreund der Gebrüder Kolberg), das er 1848 in Paris gemalt hat, nicht erhalten.

 

Die Geschichte Julius Kolbergs und seiner Söhne ist ein Beleg für die Faszination der deutschstämmigen Einwanderer für die polnische Kultur, die häufig ihre freiwillige Polonisierung und Assimilation in der polnischen Gesellschaft zur Folge hatte. Sicher liegt viel Wahres in der Theorie Marek Zyburas, es seien das polnische Ethos des Freiheitskampfes und die messianistische Literatur der polnischen Romantik gewesen, die eine große Anziehungskraft auf die Deutschen ausübten. Dies äußerte sich in deren Haltung gegenüber den polnischen Aufständen in dem von zaristischen Russland besetzten Teil Polens, folglich auch in Warschau – und dies entgegen allen Spekulationen des russischen Besatzers, dass die ausländischen Ankömmlinge das Polnische schwächen und dem Zaren im Austausch gegen Privilegien mit Loyalität begegnen würden. In diesem Zusammenhang gilt es einige ungewöhnliche Persönlichkeiten anzuführen. Der evangelische Pfarrer Leopold von Otto aus einer sächsischen Familie, die im 18. Jahrhundert nach Polen kam, organisierte patriotische Gottesdienste in Warschau, was er mit Verhaftung und Einkerkerung in der Zitadelle und schließlich mit Deportation ins Wologdaer Gouvernement bezahlte. Karol Beyer – Vorreiter der Fotografie im russischen Teilungsgebiet und Autor der ersten Fotoserie über die polnische Hauptstadt sowie der ersten Warschauer Fotoreportagen – wurde für seine patriotische Tätigkeit im Jahre 1861 ebenfalls verhaftet und ins Woronescher Gouvernement deportiert, aus dem er erst 1865 zurückkehrte. Weniger Glück hatte Edward Jürgens, Sohn eines Immigranten aus Holstein. Bereits in seiner Gymnasialzeit geriet er unter polizeiliche Aufsicht und arbeitete während des Januaraufstands (1863) mit der Untergrundregierung zusammen; von den Russen verhaftet, starb Jürgens im August 1863 in der Warschauer Zitadelle. Und schließlich Romuald Traugutt, der aus einer Familie stammte, die in der Regierungszeit von August II. dem Starken aus Sachsen nach Polen gekommen war. Wie viele deutschstämmige Untertanen der russischen Zaren entschied er sich für eine Militärkarriere. So nahm er am russischen Feldzug gegen Ungarn 1848 sowie am Krimkrieg (1853–1856) teil, in der russischen Armee wurde er zum Oberstleutnant befördert. Selbst ein Katholik, heiratete er doch eine Protestantin – Anna Pikiel; Traugutt hatte am Militärischen Institut in St. Petersburg unterrichtet und ging 1861 in den Ruhestand. Doch anstatt ein gutes, ruhiges Leben auf seinem Familiensitz zu führen, wählte er die polnisch-patriotische konspirative Tätigkeit und wurde zum letzten Diktator des Januaraufstands im Generalsrang woraufhin er am Abhang der Warschauer Zitadelle im August 1864 öffentlich hingerichtet wurde.

 

Nachdem die Repressionen nach der Niederschlagung des Novemberaufstands abgeklungen waren und die Zollgrenze zwischen dem russischen Imperium und Kongresspolen abgeschafft worden war, folgte Mitte des 19. Jahrhunderts ein erneuter wirtschaftlicher Aufschwung. Dies führte zu wiederholter Einwanderung aus den westlichen Ländern, darunter aus Deutschland. Nach Warschau kamen Gründer der Unternehmen, welche in der Geschichte der polnischen Industrie und Kultur eine große Rolle spielten. Der Thüringer Konditor Karl Ernst Wedel hatte 1851 eine Schokoladen- und Süßwarenfabrik eröffnet, die sein Sohn Emil zum größten Unternehmen dieser Branche machte und die bis 1948 in Familienhänden blieb. Die Marke „Wedel“ sieht man bis heute auf den Süßwaren, die in dem in den 1990er Jahren privatisierten Betrieb – zurzeit im Besitz des japanischen Lotte- Konzerns – hergestellt werden. Unter den aus Deutschland gekommenen Buchhändlern und Verlegern fällt Gustav Adolf Gebethner auf, der 1857 im Herzen Warschaus eine Verlagsbuchhandlung eröffnete. Bald darauf erwarb sein Unternehmen – „Gebethner und Wolff“ – Buchhandlungen in Krakau und gab eine der ältesten Tageszeitungen, den „Kurier Warszawski“, sowie die Wochenzeitung „Tygodnik Ilustrowany“ heraus. Beide Zeitungen verschwanden vom polnischen Markt erst infolge der polnischen Niederlage im Polenfeldzug 1939. Im Jahre 1846 wurde die Brauerei „Schöfer und Glimpf“ von Konstanty Schiele, Henryk Klawe und Błażej Haberbusch übernommen. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Brauerei „Haberbusch und Schiele“ zum führenden Unternehmen in der Braubranche und im 20. Jahrhundert zur größten Brauerei in diesem Teil Europas. Der aus Bromberg stammende Jan Aleksander Kerntopf gründete 1839 eine Flügelfabrik und leitete damit eine über einhundertjährige Geschichte der Firma ein. Im Jahre 1862 stellte er das erste Klavier in ganz Kongresspolen her, das ohne Einsatz von importierten Teilen angefertigt wurde. In dem betriebseigenen Laden begegnete sein Sohn Edward Konstanty zufällig dem jungen Ignacy Jan Paderewski und nahm ihn unter seine Fittiche. Dank der Förderung des Kerntopfs konnte der zukünftige große polnische Pianist sein Studium in Wien abschließen. Dabei war es kein Geheimnis, dass Paderewski seine Konzerte ostentativ auf den Kerntopf-Flügeln gab. Auch die Familie Spiess machte sich um die polnische Kultur verdient, auch wenn sie in einer ganz anderen, musikfernen Branche tätig war. Sie stammte aus Westfalen und ließ sich Ende des 18. Jahrhunderts in Warschau nieder. 1803 leitete Henryk Gottfried Spiess eine Apotheke, und sein Sohn Ludwik Henryk baute die bis heute in dem Warschauer Ortsteil Tarchomin existierende pharmazeutische Fabrik auf. Henryks Enkel Stefan dagegen, ein leidenschaftlicher Musikliebhaber, der mit Karol Szymanowski und Grzegorz Fitelberg befreundet war, konnte dank seines Vermögens und seiner finanziellen Unbeschwertheit zum Förderer seiner begabten Freunde werden: Karol Szymanowski (1882–1937) wurde ein berühmter Komponist, und Grzegorz Fitelberg (1879–1953) ein bekannter Dirigent.

 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen sich verstärkte Assimilationsprozesse der Deutschen im russischen Teilungsgebiet beobachten, die in Warschau am schnellsten vorangingen. Im Jahre 1876 besuchte der deutsche Journalist Fritz Wernick die Stadt und stellte fest: „Häufig begegnet man hier Menschen, die deutsche Namen tragen und die zwar noch sehr wohl Deutsch sprechen und verstehen, aber doch schon polnisch denken und fühlen. Die Deutschen in Warschau sind nicht so stark, wie es schiene, mit ihrer Heimat und Kultur verbunden, wie es unsere Emigrantenkolonien in anderen Ländern sind.[…] Und wenn sich einer hier für längere Zeit einquartiert, wenn ihn die feurigen und abgründigen Augen einer Polin bezaubern, dann wächst er oder sein Sohn erst recht in die polnische Gesellschaft hinein und mit dem hiesigen geistigen und gesellschaftlichen Leben zusammen.“ Dieses Phänomen stellte Boleslaw Prus in seinem Roman „Die Puppe“ in der Gestalt des Kaufmanns Jan Mincel dar. Die Geschichte der Deutschen in Warschau weicht von den geläufigen Stereotypen ab, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der kommunistischen Propaganda gern verbreitet wurden. Die behauptete, dass sich in erster Linie aus deutschen Kreisen Kaufleute, Bourgeois und Kapitalisten rekrutierten, die die polnische Arbeiterklasse ausbeuteten. Nichts lag der Wahrheit ferner, denn Vertreter der deutschen Gemeinschaft fand man auch in den Warschauer Künstlerkreisen, unter Architekten und angesehenen Ärzten. Der Warschauer Opernsänger und Komponist Wilhelm Troschel hat die Musik zu Kirchenliedern geschrieben, die in den katholischen Kirchen Polens noch heute gesungen werden: „Pod Twoją obronę“ (In Deine Obhut) und „Ojcze na niebie“ (Vater im Himmel). Die Schwestern Anna und Karolina Straus waren in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts Primaballerinen am Teatr Wielki in Warschau. Stefan Szyller (1857–1933), der eine bereits polonisierte Form des deutschen Namens „Schüller“ trug und bisher als der produktivste polnische Architekt gilt (über 1.000 Entwürfe), hinterließ in Warschau – dem Kriegsfeuer wie durch ein Wunder entkommene – öffentliche Gebäude wie die Technische Universität Warschau, die alte Bibliothek der Universität Warschau oder den Sitz der Gesellschaft zur Förderung der Schönen Künste (Zachęta) sowie mehrere Wohnhäuser. Wojciech Gerson wiederum gehörte zu den Mitbegründern der erwähnten Gesellschaft zur Förderung der Schönen Künste im Jahre 1860; er war ein herausragender, deutschstämmiger Maler des polnischen Realismus.

 

Vertreter der deutschen Gemeinschaft finden sich auch unter den Warschauer Arbeitern. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Warschau unter den fast 900.000 Einwohnern ca. 80.000 Fabrikarbeiter. Und auch diese gesellschaftliche Gruppe spiegelt den multikulturellen Charakter der Stadt wider. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstammten über 20 Prozent der Warschauer Arbeiter dem jüdischen Proletariat und ca. zehn Prozent waren Ausländer, vor allem aus dem Westen: Deutschland, Frankreich, Belgien und England. Wie die Soziologin Anna Żarnowska herausgearbeitet hat, bildeten Deutsche dabei die größte Gruppe. Sie waren vor allem als qualifizierte Arbeiter und in der Fabrikaufsicht tätig. Mit der Zeit wurden sie von Polen ersetzt. Viele Warschauer Werkzeug- und Stahlfabriken beschäftigten – vor allem zu Produktionsbeginn –qualifiziertes Personal aus dem Ausland. Beispielsweise in der Maschinen- und Metallgussfabrik „Rudzki und Co.“ machten deutsche Arbeiter noch in den 1890er Jahren einen gewissen Prozentsatz aus. Aber bereits am Ende des 19. Jahrhunderts war der Anteil von Ausländern an den Arbeiterbelegschaften der Maschinenfabriken gering. Deutsche und Russen, aber auch Belgier und Engländer finden sich häufiger unter den Meistern und Vorarbeitern. Zum Beispiel befanden sich in der Metallwarenfabrik „Konrad Jarnuszkiewicz und Co.“ 1897 unter den ca. 250 Arbeitern fünf Deutsche, vier Russen und zwei Juden, der Rest waren Polen. Unter den Meistern war nur ein Deutscher.

In dem Anhängerkreis um den Revolutionär und unerschütterlichen Verfechter der polnischen Unabhängigkeitsbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Józef Piłsudski, waren Deutschstämmige ebenfalls vertreten. Ignacy Boerner (1875–1933), der Sohn eines evangelisch-augsburgischen Pfarrers, kämpfte während des Ersten Weltkrieges in den Piłsudski-Legionen und anschließend im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920. Im freien Polen wurde er Minister für Post und Telegraphenwesen; eine Wohnsiedlung für Ministeriumsmitarbeiter, die zu seinen Ehren „Boernerowo“ genannt wurde, erinnert noch heute an den Freiheitskämpfer – in einem der Häuser lebt noch sein Enkel. Gleicher Herkunft wie Boerner war der General Orlicz-Dreszer (1889–1936), der Inspekteur der Armee und später der Luftraumverteidigung in der Zweiten Polnischen Republik; während des Ersten Weltkrieges kämpfte er ebenfalls in den Piłsudski-Legionen und war 1926 am Maiputsch beteiligt. Er kam bei einem Flugzeugunglück in der Nähe von Orłowo bei Gdynia ums Leben. In Warschau wurde ein Platz nach ihm benannt. Für viele Polen wäre es sicher eine Überraschung herauszufinden, dass General Władyslaw Anders (1892–1970), der Eroberer von Monte Cassino im Mai 1944 und Anführer der polnischen politischen Emigration in London nach dem Krieg, aus einer deutschen Lutheraner-Familie aus Livland stammte.

Spricht man über Warschau und die Lutheraner, kommt man nicht umhin, die Familie Bursche und deren tragisches Schicksal während des Zweiten Weltkrieges zu erwähnen. Der evangelische Geistliche Julius Bursche (1862–1942) war seit 1904 Generalsuperintendent der Evangelisch-Augsburgischen Kirche im russischen Teilungsgebiet und deren Bischof in der unabhängigen Zweiten Polnischen Republik. Im Jahre 1936 verfasste er ein Manifest an die Lutheraner in Polen, in dem er die nationalsozialistische Ideologie verurteilte. Er war ein Verfechter der Unabhängigkeit der polnischen evangelischen Kirche von Deutschland. 1939 wurde Bursche von den Deutschen verhaftet und starb in einem Gefängniskrankenhaus in Berlin. Sein Sohn Stefan, ein Textilingenieur, weigerte sich, die Deutsche Volksliste zu unterschreiben; er wurde von der Gestapo in Lodz verhaftet und im Februar 1942 erschossen. Die Brüder des Bischofs, Alfred und Edmund, wurden im Oktober 1939 von der Gestapo festgenommen und kamen im Konzentrationslager Mauthausen-Gusen um. Einzig mit dem Stiefbruder des Bischofs, dem Architekten Teodor Bursche (1893–1962), war das Schicksal gnädiger; nach seiner Verhaftung im Oktober 1939 wurde er in die Steinbrüche des KZ Mauthausen-Gusen gebracht, wo er 1945 die Befreiung erleben durfte. Nach dem Krieg war er im Büro für den Wiederaufbau der Hauptstadt (Biuro Odbudowy Stolicy) beschäftigt, seine Haupttätigkeit war jedoch der Wiederaufbau der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit in Warschau – derselben, die 1781 von Simon Gottlieb Zug entworfen wurde. Die Nazi-Besatzer, die Warschau in den Jahren 1944–1945 methodisch zerstörten, verschonten auch nicht die Gebäude, die von deutschen Architekten entworfen wurden sowie diejenigen, die mit der deutschen Geschichte in Verbindung standen (gesprengt wurden u. a. das Sächsische Palais und das Brühlsche Palais aus dem 18. Jahrhundert).

Die vergessene Geschichte der deutschstämmigen Familien soll den heutigen Warschauern zum ersten Mal durch die Ausstellung „Wahlpolen – deutschstämmige Familien in Warschau im 19. und 20. Jahrhundert“ näher gebracht werden. Die Ausstellung „Polen aus freier Wahl. Deutschstämmige Familien in Warschau im 19. und 20. Jahrhundert“ hat den heutigen Warschauern die in Vergessenheit geratenen deutschstämmigen Familien erstmals in Erinnerung gerufen. Sie wurde von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dem Haus der Begegnung mit der Geschichte in Warschau erstellt und war von Januar bis April 2010 in Warschau sowie im August 2011 im Berliner Rathaus zu sehen.

 

Ihre Autoren sind Tomasz Markiewicz, Tadeusz Świątek – ein Nachkomme der Familien Rode und Liebelt – und Krzysztof Wittels, ein Nachkomme der Familien Schuch und Werner. Der Titel der Ausstellung spiegelt das Phänomen der deutschen Einwanderung nach Warschau in den letzten beinahe 250 Jahren wider. Anders als in Lodz oder Kattowitz, wo es bis 1945 eine geschlossene und organisierte deutsche Minderheit gab, kam es in Warschau zu einer Verschmelzung der deutschen Ankömmlinge mit dem polnischen Element. Aus freien Stücken wurden sie Polen und Warschauer – mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Als 1939 und in den Jahren der deutschen Besatzung die Stunde der wichtigsten Prüfung schlug, lehnte es die entschiedene Mehrheit nicht nur ab, die Volksliste zu unterschreiben, sondern sie unterstützte seitdem die konspirative Tätigkeit gegen Nazi-Deutschland in den Reihen der polnischen Heimatarmee und in den Strukturen des polnischen Untergrundstaates, sowie durch ihre Teilnahme am Warschauer Aufstand im Jahre 1944. Für dieses Engagement mussten die deutschstämmigen Warschauer den höchsten Preis bezahlen. Als Träger deutscher Namen, überwiegend Lutheraner, die in antikommunistischen Organisationen tätig waren, mit der Exilregierung in London politisch in Verbindung standen und als Vertreter der von den Kommunisten bekämpften Kapitalisten stellten sie eine leichte Beute für die stalinistischen Repressionen dar. Auch wenn sie nach dem Krieg ihre Unternehmen oder Fabriken wiederhergestellt hatten – wie die Wedels oder die Straus’ – wurden sie Opfer der Nationalisierung und verloren den Erwerb ganzer Familiengenerationen. In dieser Hinsicht teilten sie das Schicksal anderer Polen und Warschauer. Manchen von ihnen gelang es, einen Teil ihres alten Familienerbes im Zuge der noch schleppenden Reprivatisierung in Polen zurück zu gewinnen. Erst nach 1989 hatten sie den Mut, sich zu ihren deutschen Wurzeln zu bekennen. Es fiel ihnen nicht leicht, aber ihre Familiengeschichten geben ihnen das Recht, erhobenen Hauptes durch die Warschauer Straßen zu schreiten. Denn sie haben die Wahlheimat ihrer Vorfahren nicht enttäuscht; sie haben Warschau nicht enttäuscht. Sie handeln zum Wohle des nach 1989 wiedergeborenen Polens.

 

Aus dem Polnischen von Monika Satizabal Niemeyer